“Wie lang ist das Leben und was
kommt danach?“ fragte der Schmetterling Gott. “Was war davor?
Warum weiß ich nichts davon? - Viele, schwere Fragen an einem
schönen Frühlingstag. Fragen an Gott und es gab keine Antworten.
Oder? träumte der Schmetterling? Etwas oder jemand ließ ihn
spüren, dass er nicht alleine war: “ Du kannst dein ganzes Leben
noch einmal erleben. Fliege ganz hoch , so hoch wie du kannst,
und du wirst Augen haben, die alles sehen; Ohren, die alles
hören und eine Seele, die alles fühlt.“ - Und der Schmetterling
flog und flog. Er strengte sich an, höher und höher. Er gab
seine ganze Kraft hin.
Als er nicht mehr konnte, gab er auf und ließ sich fallen. Aber
er fiel nicht, er wurde gehalten, unsichtbar getragen. Er
schwebte. Er spürte Licht um sich herum, hörte unbekannte Töne
und sah plötzlich ein Bild vor sich. Er platzte auf, wie eine
Seifenblase. Er sah einen Schmetterling, der an einen Busch
flog, seine Eier ablegte und verschwand. Die Sonne kam, der
Regen fiel und aus einem Ei schlüpfte eine Raupe, ganz klein und
fast unsichtbar. Der Schmetterling spürte plötzlich in seiner
Seele: - Das bin ich. Ich bin dieser kleine Wurm. - Er staunte.
Die Raupe kletterte los, fraß von den Blättern, versteckte sich
vor den Vögeln und Insekten. Sie lebte gut. Kein Tag war wie der
andere. Manchmal hatte sie Angst, gefressen zu werden, und
versteckte sich. Mal sonnte sie sich übermütig. Sorgen kannte
sie nicht und wuchs prächtig. Sie wurde dicker, träger und
langsamer. “Was soll aus der wohl werden“, fragte sich der
Schmetterling, “und wie bin ich so schön geworden?“
Die Raupe suchte sich einen schönen verstecken Platz. Sie
streckte sich an der Unterseite eines kleinen Zweiges und spann
sich ein. Langsam aber war nicht mehr viel von ihr zu sehen.
“Stirbt die Raupe?“ sorgte sich der Schmetterling. “Ja,“ hörte
er Antwort, “sie stirbt und erwacht zu neuem Leben. Sie wechselt
ihre äußere Hülle. Das Alte vergeht und das Neue wächst heran.
Schau!“ Und er sah hinein in die Hülle, die Puppe. Die Raupe war
nicht mehr da, er erschrak.
Feine Gliedmaßen entstanden, alles verwandelte sich. Ein Bild
löste das andere ab. – Der Schmetterling staunte. – Beinah hätte
er übersehen, wie die Puppe sich unten öffnete. Ein kleines Loch
entstand. Eine neue Gestalt kletterte, nein schob sich langsam
heraus und saß im Licht. Die Sonne wärmte sie und sie atmete
tief ein. Das neue Leben hatte begonnen. Die Gestalt breitet die
zarten Flügel aus und erhob sich in die Luft.
“Das bin doch ich.“ Dachte der Schmetterling. “Er sah noch
einmal sein Leben bis zu dem Flug, der ihn höher und höher trug.
“Ja, das bist du.“ Sagte Gott. “Du weißt nun, was vorher war und
was nachher kommt. Sonst sieht jeder nur seinen Lebenszeitraum,
seine Erfahrung. Er spürt nicht das neue Leben und auch nicht
die Ankunft im Licht. Nur weil du dich fallen gelassen hast,
weil du vertraut hast, konntest du mehr sehen.“
Friedrich Rückert